Donnerstag, 20. April 2017

3. Poetry-Slam

Als drittes kein Gedicht oder Lied, sondern ein Poetry-Slam. Weil es auch ein eher aktueller Text ist, ist er sehr interessat. Auch wie mit dem Hund und der Sau Freiheit behandelt wird ist einfallsreich aber seht selbst.

Das bisschen Freiheit

Was mich an wohlerzogenen Hunden immer so erfreut, ist, dass sie zwar vollkommen unterwürfig alles mitmachen, was ihnen an Tagesprogramm aufgebürdet wird, absolut pünktlich zur Abendessenszeit dann aber mit herzerweichenden Mitteln auf ihr Recht auf Futter beharren. Kaum ist es fünf Uhr, wird auf die pawlowische Uhr gesabbert, egal ob das Herrchen weiter Stöckchen werfen oder Zeitung lesen will. Der moderne Hund schafft den Spagat zwischen unfreiwilliger Formbarkeit und ordentlich sturem Grundbedürfnis, zwischen Opferrolle und ehrlichem Psychoterror. Er ist ein Meister des freiheitlichen Understatements, ein Sklave ohne Daumen, der die Tür zum Kühlschrank selbst nicht aufkriegt und sich darüber volkommen im Klaren ist.
Ganz im Gegensatz dazu die Sau. Oder, etwas genauer gesagt: die Sau im Menschen. Oder, noch genauer: die Sau in dem Schlag von Menschen, der gerade, as we speak, seine Blüte zelebriert. Im Strom des Zeitgeists von wachsender Freiheit und verpflichtender Flexibilität sich treiben lassend, der Anti-Lassie-Typus, sozusagen. Heute hier, morgen dort, offene Möglichkeiten sind der Groove des neuen Milleniums, spontane Terminabsagen das Heroin einer jeden Agenda. Du lebst nur einmal, Baby, also zerr die Sau raus aus dem Stall, bevor ihr dort drinnen noch die speckigen Glieder verkrümmen. Yolo, you only live once, nennt sich dieser Spirit und ist Carpe Diems verantwortungs- und zügelloser Krüppelbruder aus dem 21. Jahrhundet. Der anti-evolutionäre Hedonist, der auf der Autobahn rückwärtsfährt und sich dabei filmt, der tollwütige Chihuahua mit Selbstüberschätzung. Der pubertäre Stilzerstörer, der an der Party in die Bowle kotzt und dann auch noch selbst daraus trinkt, ganz einfach, weil er's kann.
Sogar ganze Studien darüber gibt es, dass Hab und Gut längst nicht mehr die wahren Statussymbole sind. Dass die jungen und jung gebliebenen Leute von heute mehr auf Besitzlosigkeit und auf Spontaneität im Leben setzen. Zeit muss her, Zeit  und ein Wille, sie auf effiziente und originelle Weise für sich selbst zu nutzen. Das Problem ist nur: Leute, die sich auf ihre erzwungene, rücksichtslose Spontaneität etwas einbilden, sind ein bisschen wie Babys, die Zigaretten rauchen. Auf den ersten Blick kann man ihnen eine gewisse Coolness nicht absprechen, auf alle weiteren Blicke hin findet man aber, dass die Verantwortlichen sich hierfür schämen sollten, und will, dass das Ganze so bald wie möglich bitte aufhört.
Mit wachsender Freiheit nehmen auch die Möglichkeiten zu, und nur wer heute wirklich spontan ist, kann angeblich auch tatsächlich alle nutzen. Die Freiheit verknechten und bis zur absoluten Dürre leer melken. Dass das Gehirn in Wirklichkeit etwa so flexibel ist wie eine Billardkugel – es wird abgestoßen, reagiert entsprechend, und ganz selten ist das Ergebnis ob glücklicher Kerben so dermaßen unglaublich, dass wie beim Profi-Snooker im Fernsehen alle Zuschauer verzückt die Hände vor ihre offenen Münder peitschen –, geht vor lauter Zwangsbespaßung dann halt klammheimlich vergessen. Das sind die Menschen, die stolz darauf sind, ihre eigenen Chefs zu sein, und gleichzeitig nie öffentlich zugeben würden, dass sie ihren Chef eigentlich für ein Arschloch halten. Aber egal, you only live once, und dass es gar keine Säue gibt, die darauf warten, rausgelassen zu werden, muss auch niemand wissen. Denn natürlich sind das alles ganz einfach sabbernde Sauhunde, die schon lange draußen sind.

(Hazel Brugger, 2016)

Analyse

"Grafische" Darstellung

Da es sich hier um einen Poetry-Slam und somit auch um einen Fliesstext handelt gibt es nicht wirklich Strophen und Verse. Der Text ist ausserdem auch reimlos und besitzt kein Metrum.

Bildlichkeit/Stilmittel

"Der moderne Hund schafft den Spagat zwischen..." (Zeile 5/6) Metapher
Mit "den Spagat schaffen zwischen" ist gemeint, dass man zwei Angelegenheiten gut meistern kann auch gleichzeitig.

"Die Freiheit verknechten und bis zur absoluten Dürre leer melken." (Zeile 32/33) Personifikation
Die Freiheit wird zur Person, indem man sie verknechten kann und melken und sie somit greifbar wird.  Somit ist sie auch handlungsfähig.

"Dass das Gehirn in Wirklichkeit etwa so flexibel ist wie eine Billardkugel..." (Zeile 33/34) Vergleich
Dieser Vergleich will zeigen, dass das Gehirn hart und unformbar sein soll wie eine Billiardkugel.

Quelle: Brugger, Hazel, Ich bin so hübsch, 2. Auflage, Zürich - Berlin 2016, S. 145.

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